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Nachrichten

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Unter Präsident Javier Milei hat sich das Leben massiv verändert: Denunziation, Kontrolle über die Medien und Amtshandlungen mit hohem symbolischem Gehalt treffen vor allem die Armen hart.

Für einen Laufmeter Acrylfolie, aus der sie unten in der Werkstatt Tote Bags und Unisex-Handtaschen herstellt, hat sie vor ein paar Monaten noch 1.000 argentinische Pesos gezahlt. Heute kostet sie der gleiche Rohstoff im Großhandel 5.900 Pesos (6,45 Euro). "Wenn in den Zeitungen also von einer jährlichen Inflation in der Höhe von 160 bis 260 Prozent die Rede ist", sagt Lanegra, "dann stimmt das nur bedingt. Das sind die offiziellen, bereits beschönigten Zahlen, die die Nationalbank veröffentlicht. Der Alltag sieht viel schlimmer aus, vor allem für importierte Konsumgüter, die meist an den Dollar geknüpft sind."

Lanegra – so ihr Künstlername, 45 Jahre alt, auf ihrem Körper in Tinte die Kapitel ihres Lebens niedergeschrieben – ist ausgebildete Schneiderin und betreibt eine kleine Modeboutique namens Pomba im Szeneviertel San Telmo, mitten im Touristengewusel von Buenos Aires. Die Werkstatt ein Geschoß tiefer teilt sie sich mit Lao Moyano, seines Zeichens Grafiker und Siebdrucker. Nur so ist die Geschäftsmiete in diesem Viertel überhaupt noch leistbar. Dabei haben die beiden Selbstständigen mit einem zwei Jahre alten Mietvertrag noch großes Glück.

Denn seit Inkrafttreten des Decreto de Necesidad y Urgencia (DNU, Eil- und Notdekret) am 29. Dezember 2023 – also nur 19 Tage nach der Angelobung des neuen, laut Eigenbeschreibung "anarchokapitalistischen", nahezu autokratisch agierenden Präsidenten Javier Milei – sind der Immobilienmarkt, so wie auch der Markt für Lebensmittel, Konsumgüter, Dienstleistungen und sogar Medikamente, Sozialversicherung und Gesundheitsversorgung von jeglicher Preisbindung befreit.

Die Preise sind seitdem explodiert. Die Preisschilder im Supermarkt werden im Tages- und Wochenrhythmus nach oben korrigiert. Gedruckte Speisekarten im Restaurant findet man immer öfter ohne Preisangabe, dafür aber mit einem QR-Code, der direkt zur leicht adaptierbaren Onlineversion führt.

Und: Vermieter können für ihre Immobilien seit Ende Dezember Fantasiepreise verlangen und in den Vertrag Befristungsklauseln aller Art einbauen. In ausgewählten, besonders beliebten Vierteln wie etwa San Telmo dürfen sie die Miete je nach Belieben sogar in Euro oder US-Dollar einholen. Von vielen wird das auch praktiziert. Die Wohnungsnot hat ein Maximum erreicht.

Besonders hart trifft es auch die Pendler und Pendlerinnen, die in der Metropolregion Buenos Aires mit 13 Millionen Menschen täglich bis zu drei Stunden in öffentlichen Verkehrsmitteln sitzen. Sämtliche Subventionen wurden gestrichen.

Während eine Fahrt mit Bus oder U-Bahn vor wenigen Monaten mit Stützung des Staates noch 80 Pesos kostete, wird sie seit Anfang Jänner in Monatsschritten sukzessive angehoben und soll ab Juni 757 Pesos kosten – eine glatte Verzehnfachung.

Und das bei einem – laut dem Marktanalyseunternehmen CEIC Data – monatlichen Durchschnittseinkommen von 360 Euro. Nicht nur Wohnen, sondern auch Mobilität in überfüllten Bussen wird damit zum Luxusgut.

"Das, was in Mileis Politik heute als Neoliberalismus bezeichnet wird", sagt Lanegra, "galt vor einigen Jahren noch als Anarchokapitalismus." Und am stärksten leiden darunter die Ärmsten der Armen.

In der kurzen Amtszeit Mileis, zitiert die moderat-progressive Tageszeitung "Página 12" eine kürzlich veröffentlichte Studie der Universidad Católica Argentina (UCA), ist der Anteil der offiziell unter der Grenze des Armutsindex lebenden Menschen in Argentinien von 44,7 auf 57,4 Prozent gestiegen.

Viele davon können sich eine Krankenversicherung nicht leisten, wurden in der Regel aber – in sozialer Kulanz und aus diversen Fördertöpfen gespeist – mit Medikamenten und ärztlicher Leistung versorgt.

"Das ist jetzt vorbei", erzählt Lao Moyano. "Ärzte, Apotheken und Krankenhäuser dürfen keine Notfälle mehr aufnehmen." Das trifft krebskranke, HIV-positive und chronisch erkrankte Menschen ebenso wie etwa transsexuelle Personen, die auf hormonelle Behandlung angewiesen sind und die im bislang sozialprogressiven Argentinien stets gefördert und unterstützt wurden – etwa mit einer Mindestquote für Anstellungen im öffentlichen Dienst.

"Ich fürchte, dass die Todes- und Katastrophenfälle in den kommenden Monaten und Jahren massiv zunehmen werden. Die Idee des Sozialstaats ist gestorben."

Dass die soziale Idee nicht nur unterdrückt, sondern die asoziale Geisteshaltung seit Mileis Amtsantritt sogar aktiv gefördert wird, zeigt sich nicht nur in einem Verbot von Demonstrationen und Verkehrsbehinderungen aller Art, sondern auch in einer neu eingeführten Telefonhotline: Unter der Gratisnummer 134 kann man verdächtige Menschen und Bürgerinitiativen, die etwa eine Demo planen oder dem neuen autokratischen System in irgendeiner anderen Weise ungemütlich scheinen, anonym denunzieren.

Auf diese Weise solle der "perverse Mechanismus", wie Präsident Milei auf seinem X-Account schreibt, aufgedeckt und ausgelöscht werden.

Genau dort veröffentlichte er vergangenen Freitag übrigens sein neues X-Profilfoto: Javier Milei als US-Freiheitsstatue.

Überraschende Schocks wie diese gibt es unter dem narzisstischen Egomanen Milei am laufenden Band: Am 22. Februar kündigte er an, das Instituto Nacional contra la Discriminación, la Xenofobia y el Racismo (INADI, Nationales Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus) zuzusperren und aufzulösen, was am Tag darauf von der Justiz jedoch als verfassungswidrig wieder gestoppt wurde.

Als symbolischen Racheakt veröffentliche Milei fünf Tage später, dass demnächst das nonbinäre, genderinklusive "E" aus der offiziellen Amtssprache verschwinden wird.

Die seit einigen Jahren gebräuchliche und längst etablierte Pluralform (zum Beispiel "chiques", Leute unterschiedlicher Geschlechter, im Gegensatz zu den männlichen "chicos" und den weiblichen "chicas") ist mit dem deutschen Binnen-I und Gendersternchen vergleichbar.

Und sogar weibliche Formen wie etwa "doctora", "generala" oder "presidenta" stehen auf der roten Liste, weil sie angeblich die Sprache "vergewaltigen" würden.

"Vieles, was wir uns sozial und kulturell in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben, wird nun mit einem Schlag zunichtegemacht", sagt die Filmproduzentin Liliana Furió.

Die 61-Jährige hat einige Dokumentarfilme über queere und feministische Lebenskultur in Buenos Aires und einigen anderen Städten gemacht. Dem Fondo Nacional de las Artes (Nationaler Kunstfonds) wurde der Geldhahn zugedreht, damit ist ihre Arbeit vorerst einmal eingefroren.

Und: Am 28. Februar wurde Alejandro Cacetta, bis dahin Direktor des Instituto Nacional de Cine y Artes Audiovisuales (INCAA, Nationales Institut für Kino und audiovisuelle Künste), fristlos entlassen und durch den regierungsnahen Ökonomen Carlos Pirovano ersetzt, der an seinem allerersten Arbeitstag bereits 140 INCAA-Angestellte kündigte.

"Die Politik in Argentinien ist ein Experiment", so Furió. "Wir sind – mehr noch als Brasilien unter Bolsonaro und viele Länder in Afrika – zum Versuchskaninchen für neoliberale Staatsführung geworden, die die Spaltung der Gesellschaft und die Gewinnmaximierung für eine kleine, privilegierte Minderheit zum Ziel hat."

Der menschliche Zusammenhalt, meint die Filmemacherin, werde mehr und mehr auf den Prüfstand gestellt. "Entweder wir kriegen noch die Kurve, oder aber wir sind auf dem besten Weg zu einem Bürgerkrieg. Mir macht die politische Situation große Angst."

Freitag, 29. Februar: Javier Milei spricht im Palacio del Congreso erstmals vor den 329 Mitgliedern jenes Kongresses, den er am Beginn seiner Amtszeit noch hatte auflösen wollen.

Auf der zwei Kilometer langen Route zwischen seinem Amtssitz in der Casa Rosada gab es entlang der Avenida de Mayo Absperrungen und maximales, sichtlich überproportionales Polizeiaufgebot.

Dann, auf der Plaza del Congreso, versammelten sich tausende Menschen, um mit Kochtöpfen und Kochlöffeln lautstark gegen Mileis Politik zu demonstrieren. Der sogenannte Cacerolazo geht auf die Wirtschaftskrise 2001 zurück und ist eine laute, traurige Allegorie auf den Hunger und die Notsituation der Argentinier.

Auch in den folgenden Tagen gibt es düstere News zur politischen Zukunft Argentiniens – etwa durch die sofortige Schließung der argentinischen Nachrichtenagentur Télam am 4. März.

Das Redaktionsgebäude in der Calle Bolívar 531 wurde verbarrikadiert und von der Polizei bewacht, die Belegschaft freigestellt, die Website deaktiviert: "Página en reconstrucción."

Indes richtet sich der Präsident ans Volk: "Wir bitten die Menschen um Macht. Aber nicht der Macht wegen, sondern um sie den Argentiniern wieder zurückzugeben. Das ist meine Einladung. Doch wer Konflikt sucht, der wird auch Konflikt bekommen."

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[–] OKRainbowKid@feddit.de 3 points 8 months ago

Klassischer rhabarba-Kommentar.