this post was submitted on 16 Nov 2023
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Das wird immer wieder behauptet und teilweise auch von den Medien so dargestellt, ist aber komplett falsch. Eine solche Widerspruchslösung würde die Zahl der Organspender wenn überhaupt nur minimal erhöhen.
Eine Organspende scheitert in den seltensten Fällen an einer eindeutig festgelegten Einwilligung. Nur 22,4% der tatsächlichen (!) Organspender hatten letztes Jahr überhaupt einen Organspendeausweis. Bei allen anderen haben entweder die nächsten Angehörigen die Entscheidung übernommen oder der Spender hat sich noch zu Lebzeiten dazu geäußert.
Insgesamt gab es 2022 869 Spender*innen. Dem gegenüber stehen insgesamt 13 Fälle, in denen niemand die Entscheidung übernehmen konnte oder man den Angehörigen das Gespräch nicht zumuten wollte. Das sind die Fälle, die mit einer Widerspruchslösung noch zusätzlich gewonnen werden könnten. 882 Spenden statt 869. Natürlich kann jede zusätzliche Spende für einen Menschen lebensrettend sein. Aber dass das Problem damit gelöst wäre kann man wirklich nicht behaupten.
Die Zahl der Fälle, in denen potentielle Spender einer Organentnahme direkt widersprochen haben, ist deutlich größer. Die kann man aber nicht dazu zählen, weil man davon ausgehen muss, dass sie auch (oder gerade dann) ihren Widerspruch geäußert hätten, wenn sie sonst automatisch Organspender geworden wären.
Der tatsächliche Flaschenhals liegt ganz wo anders. Fast alle Menschen, die sterben, kommen nie als Organspender in Frage. In dem Moment wo das Herz aufhört zu schlagen, werden die Organe nicht mehr durchblutet und beginnen abzusterben. Bis die Entnahmeteams in der richtigen Klinik und die Organe entnommen sind, sind sie längst nicht mehr zu gebrauchen.
Es gibt nur eine Möglichkeit, Organspender zu werden: man muss tot sein, das Herz muss aber weiter schlagen. Das gibt es nur in einem ganz bestimmten Fall, dem Hirntod. Wenn das Gehirn z.B. durch einen Kopfverletzung, eine Hirnblutung oder einen Schlaganfall vollständig abgestorben ist, gilt ein Mensch als tot. Normalerweise würde man in dieser Situation auch sofort aufhören zu atmen und das Herz würde kurz darauf wegen Sauerstoffmangel stehen bleiben. Mit modernen intensivmedizinischen Maßnahmen (u.a. künstliche Beatmung) kann man den Körper aber noch einige Zeit weiter laufen lassen. Das geht vor allem auch deshalb, weil das Herz von ganz alleine schlägt, so lange es mit Sauerstoff versorgt wird. Es braucht dazu keine Steuerung vom Gehirn (anders als die Atmung).
Dieser Fall ist aber selten. Die meisten Menschen, die z.B. bei einem Unfall so schwer verunglücken dass das Gehirn zerstört wird, haben auch an anderen Körperstellen schwerste Verletzungen und verbluten oder sterben auf andere Weise bevor sie überhaupt in der Klinik ankommen. Und durch die moderne Neurochirurgie können immer mehr Menschen mit schwersten Hirnblutungen noch gerettet werden, die früher vielleicht als Organspender in Frage gekommen wären.
Ein tatsächliches Problem, das sicherlich vielen Organspenden im Weg steht, ist aber der enorme Arbeitsaufwand rund um die Organspende und vor allem die aufwändige Feststellung des Hirntods. Dazu müssen eine ganze Reihe von Untersuchungen nach einem sehr strengen Schema von zwei erfahrenen Ärzt*innen durchgeführt werden. Wenn da irgendwo eine bestimmte Zeitgrenze nicht eingehalten wurde oder die Untersuchungsergebnisse nicht genau übereinsteimmen, war alles umsonst. Und diese Hirntodfeststellung muss von den Kliniken selbst durchgeführt werden, die bekanntermaßen unter massivem Personalmangel leiden. Es gibt wenige, die das personell überhaupt stemmen können.
Sehr viel einfacher ist es, ohne eindeutige Hirntodfeststellung, meistens in Rücksprache mit den Angehörigen alle Geräte auszuschalten. Dann geht der Leichnam zum Bestatter und das Bett ist wieder frei. Der Patient wäre so oder so gestorben. Aber auf diese Weise können natürlich keine Organe entnommen werden.
Wenn es unabhängige Teams gäbe, die man rufen könnte wenn man einen potentiellen Spender hat, und die den Fall dann komplett übernehmen - dann wäre eine Organspende für das Klinikpersonal keine untragbare Zusatzbelastung mehr, sondern eine Entlastung. Und ich bin mir sicher, dass es dann deutlich mehr Spenden gäbe. Nur leider würde das natürlich Geld und echtes Engagement kosten. Die Widerspruchslösung ist dagegen fast umsonst und so herrlich populär - dass sie (fast) nichts bringt ist der Politik dabei egal.
Hier ist die Quelle für alle Zahlen: https://www.dso.de/SiteCollectionDocuments/DSO-Jahresbericht%202022.pdf
Danke für die ausführliche Argumentation. Bis dato ist mir unklar wieso man rational gegen diese Widerspruchslösung sein könnte, von daher ist das sehr interessant. Halte dein Hauptargument aber für falsch:
es würde die Zahl der Spender nicht nur minimal sondern fast maximal erhöhen. Die 13 Fälle, die du hier nennst, beziehen sich ja auf die Fälle, die bei der aktuellen Opt-In-Lösung in Betracht gezogen wurden. Wenn man die Zahlen aktueller frühzeitiger Todesfälle anschaut sind die Zahlen möglicher Spender deutlich höher. Man kann dann beispielsweise direkt die Transplantationsprozesse einleiten (sofern nicht im Opt-Out Register gefunden): entnehmen, konservieren, Empfänger kontaktieren, etc. Die weiteren Probleme die es sicher auch gibt, benötigen zur Lösung dennoch erst mal die Einführung des Opt-In-Systems.
Wenn die Widerspruchslösung so populär ist, dann kann man sie doch einfach einführen. Dann kann man sich danach um die verbleibenden Probleme kümmern, da dieses Problem dann wegfällt und die verbleibenden Probleme einfacher zu lösen sind (d.h. bei Opt-In Systemen kann der Prozentsatz der Fälle "Bis die Entnahmeteams in der richtigen Klinik und die Organe entnommen sind, sind sie längst nicht mehr zu gebrauchen" schnell substanziell reduziert werden).
Ich bin mir nicht sicher ob wir aneinander vorbei reden, aber der oben beschriebene Fall gilt ganz unabhängig von der gesetzlichen Regelung. Wer "ganz normal" stirbt, also ohne den Sonderfall Hirntod, kann normalerweise keine Organe spenden, auch wenn sofort geklärt ist dass der Spender das möchte. In dem Moment wo das Herz stehen bleibt, beginnt ab der ersten Sekunde der Verfall der Organe und sie sind innerhalb kürzester Zeit komplett unbrauchbar. So schnell ist kein Organspendeteam da.
In den USA wird gerade an einem Verfahren für eine Organspende ohne Hirntod gearbeitet. Da geht es um Patienten, die eindeutig keine Überlebenschancen haben und wo die Intensivtherapie abgebrochen werden soll, ohne dass sie aber die strengen Hirntod-Kriterien erfüllen. Die Entnahmeteams werden schon geholt während der Spender noch lebt, dann wird er in den OP gebracht, es wird alles für die Entnahme vorbereitet und dann wartet man bis der Spender stirbt. Direkt nach dem Kreislaufstillstand wird mit der Organentnahme begonnen, damit so wenig Zeit wie möglich ohne Durchblutung vergeht. Und trotzdem ist die Qualität der Organe deutlich schlechter als bei einer Hirntod-Spende - was für die Organempfänger bedeutet, dass sie sehr viel schlechtere Überlebenschancen haben. Deswegen wird auch in den USA fast nur diese Spende nach Hirntod durchgeführt.
Der Flaschenhals ist wirklich dass es einfach zu selten diesen Sonderfall Hirntod gibt. In den allermeisten Fällen wo eine Organspende medizinisch möglich ist, wird sie auch durchgeführt.
Die Gefahr eines Opt-In-Systems sehe ich darin, dass es nach hinten los geht. Viele Leute sind heute schon sehr skeptisch gegenüber der Organspende, was man ja auch an einigen anderen Kommentaren hier sieht. Dass es komplett freiwillig ist und man sich bewusst dafür entscheiden muss, trägt meiner Meinung nach sehr zur Vertrauensbildung bei. Es gibt keine große Anti-Organspende-Bewegung, weil das Thema nur Leute betrifft, die das auch wollen. Das könnte aber umschlagen, wenn es heißt dass die Organe nach dem Hirntod automatisch entnommen werden so lange man nicht widerspricht. Ich sehe jetzt schon die Corona-Schwurbler mit neuen Plakaten durch die Straßen ziehen und zum massenweisen Widerspruch gegen die Organspende aufrufen. Da werden so viele Fake News durch die sozialen Medien geistern, bis die Leute aus lauter Verunsicherung erst mal widersprechen, auch wenn sie nicht genau wissen was sie davon halten sollen. Bei dem minimalen Potenzial, das eine Opt-In-Lösung bietet, ist aus meiner Sicht das Risiko zu groß, dass es hinterher weniger Organspenden gibt als vorher.