Sparhaushalt, Minimindestlohn, Mietenexplosion: Zum zweiten Mal droht ein SPD-Kanzler an der Gerechtigkeitsfrage zu scheitern. Es wirkt, als wäre die Partei ohnmächtig.
Wenn die Grünen in der Krise sind, werden sie quengelig. Wenn die Union in der Krise ist, wird sie hektisch. Und wenn die SPD in der Krise ist? Dann schweigt sie. Lang und immer länger.
"Ach, Krise!", raunzen Sozialdemokraten dann, wenn man sie sachte darauf anspricht, und verweisen umgehend auf das Auf und Ab der Umfragen im Allgemeinen und im Besonderen über zwei Jahre vor der Bundestagswahl, die ja nun wirklich niemand vorhersagen könne – und so weiter. Aber derzeit geht es eben überhaupt nicht um 18 Prozent, sondern um 18 Jahre sozialdemokratischer Politik, weshalb man sich zu Beginn für einen Moment an zwei zentrale Begriffe erinnern sollte, die so etwas wie die Wortgerüste ihrer Zeit bilden.
Respekt, lautet der eine.
Eigenverantwortung, der andere.
"Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen", so begründete Gerhard Schröder am 14. März 2003 seine Agenda-Reformen im Deutschen Bundestag. Der Begriff der Eigenverantwortung, der in jenen Jahren im Zentrum der SPD-Rhetorik stand, markierte einen Bruch mit der sozialdemokratischen Philosophie: vom fürsorgenden zum fordernden Staat, von der gerechten Verteilung des Wohlstands zur gerechten Verteilung der Chancen, vom Kollektiv zum Individuum.
"Axiome des Neuliberalismus"
Die SPD verschrieb sich einer meritokratischen Utopie, in der jeder seines Glückes Schmied ist, und wer versagt, wer arbeitslos wird oder in einem Niedriglohnjob festhängt, der hat einfach nicht gut genug geschmiedet. In jenen Jahren, schrieb der Politikwissenschaftler Franz Walter, "erkannten Sozialdemokraten grundlegende Axiome des Neuliberalismus an, während sie Prämissen der Altsozialdemokratie verwarfen".
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Was bleibt heute übrig vom Respekt?
Der Wahlsieg von Olaf Scholz im Jahr 2021 basierte auch darauf, dass es der Partei gelang, Vertrauen in den unteren Schichten zurückzugewinnen. 28 Prozent der Arbeiter und 26 Prozent der unteren Mittelschicht wählten in diesem Jahr die Sozialdemokratie. Zum ersten Mal seit knapp zwanzig Jahren stimmten die sogenannten kleinen Leute in großer Zahl für die Sozialdemokratie, zum ersten Mal gelang es der SPD das Vertrauen zurückzugewinnen, das sie in den Jahren der schnarrenden Eigenverantwortungsrhetorik verloren hatte.
Im Bundeskanzleramt wurde dies stets – und im Übrigen: mit einigem Recht – als Erfolg der neuen Strategie betrachtet. Nicht bloß Laschets Lacher und Baerbocks Plagiate hätten Scholz den Sieg gebracht, sondern, so hieß es, eine glaubwürdige Erzählung. Das Versprechen, dass Scholz ein Kanzler für die working class sei.
Was aber bleibt heute übrig vom Respekt? Einige Meldungen aus den vergangenen Wochen.
Der Mindestlohn wird auf Druck der Arbeitgeber nur um 41 Cent erhöht. Das sozialdemokratisch regierte Deutschland unterschreitet damit die Richtlinien der konservativ geführten EU-Kommission, die einen Mindestlohn von 60 Prozent des mittleren Einkommens für Mitgliedsländer vorschreibt. Die Reallöhne in Deutschland sanken laut Statistischem Bundesamt im vergangenen Jahr um vier Prozent, der höchste Rückgang seit dem Beginn der Erhebung. Trotz Wumms und Doppelwumms konnten sich laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung insbesondere mittlere und untere Schichten zuletzt spürbar weniger für ihr Geld leisten – der Kaufkraftverlust lag hier bei rund drei Prozent.
Normalverdiener überdurchschnittlich belastet
Mit dem am Mittwoch im Kabinett verabschiedeten Haushalt werden künftig die Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung steigen, was vor allem Gering- und Normalverdiener überdurchschnittlich belastet. Die Kindergrundsicherung, die arme Familien unterstützen soll, wird schmaler ausfallen als geplant. Die Bafög-Sätze sollen trotz stark gestiegener Lebenshaltungskosten nicht erhöht werden. Wenige Tage zuvor hatte der Internationale Währungsfonds eine Studie veröffentlicht, die zu dem Ergebnis kam, dass Unternehmensgewinne derzeit der Haupttreiber der Inflation seien.
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Eine Wiederwahl von Scholz ist ohne die Liberalen nicht zu denken
Der Unterschied freilich ist: Schröders Agenda 2010 war ein Projekt. Scholz' unfreiwillige Agenda 2030 ist eher ein Unfall. Schröder setzte seine Politik durch. Scholz dagegen lässt sie geschehen. Denn tatsächlich sind die führenden Sozialdemokraten dieser Tage noch immer überzeugt, dass sie aus den Fehlern der Nullerjahre gelernt haben. Im Gegensatz zu jener Zeit herrscht bei der SPD keinesfalls die heimliche Überzeugung, dass es der eigenen Wählerschaft in Wahrheit zu gut gehe, sondern vielmehr die Analyse, dass eine Erosion der Mittelschicht eine Gefahr sei, nicht nur für die eigene Partei, sondern auch für die Demokratie. Die Frage lautet also, weshalb die Sozialdemokraten trotzdem in die Falle tappen, aus der sie sich gerade erst mühsam befreit haben. Drei Gründe lassen sich hierfür ausmachen. Ein machtpolitischer, ein personeller, ein intellektueller.
Erstens ist die SPD bekanntermaßen auf die FDP angewiesen. Eine Wiederwahl von Scholz ist ohne die Liberalen nicht zu denken, was dazu führt, dass die Sozialdemokratie zwei zentrale Prämissen der FDP klaglos akzeptiert: keine Steuererhöhungen und keine Neuverschuldung jenseits der Schuldenbremse. Als sich die Regierung im Winter 2021 darauf einigte, gab es allerdings noch keinen Krieg, keine Wirtschaftskrise und keine rasende Inflation. Man rechnete mit ordentlichen Wachstumszahlen, hinzu kamen die Rücklagen aus den Corona-Jahren, das werde schon hinhauen, war damals die Einschätzung. Nun: Tut es erkennbar nicht.
Während zum Beispiel die USA das Geld derzeit kübelweise über Bürgern und Unternehmen ausgießen, wird in Deutschland ein Sparhaushalt zusammengeknausert. Und während Joe Biden ankündigte, "40 Jahre fehlgeleiteter Wirtschaftspolitik" zu beenden und Steuererhöhungen für Wohlhabende und Unternehmen auf den Weg zu bringen, erklären SPD-Funktionäre, dass man hier leider nichts tun könne, weil, Sie wissen schon, die Koalition. Wohlgemerkt: Joe Biden muss für seine Politik Senatoren überzeugen, die in Deutschland eher bei der AfD wären als bei der SPD. Die deutsche Sozialdemokratie wiederum verstummt schon, wenn Christian Lindner einmal "Schuldenbremse" sagt.
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In den Nullerjahren war der SPD-Generalsekretär Olaf Scholz eine tragische Figur der Sozialdemokratie. Als Sprechautomat der Agenda-Politik musste er seiner Partei erklären, warum sie an der Regierung all die Versprechen brach, mit denen sie zuvor die Bundestagswahl gewonnen hatte. Mehr als ein Jahrzehnt brauchte er, um sich davon zu emanzipieren, innerlich zu konvertieren und schließlich sein eigenes Anti-Agenda-Programm glaubhaft vertreten zu können. Die echte Tragik allerdings besteht darin, dass nach nur anderthalb Jahren im Kanzleramt der neue Scholz wieder ganz wirkt wie der alte.